Blickpunkt
ECE R90 Bremsbeläge vs. Rennstrecke
Warum selbst der beste Bremsbelag mit ECE R90 Zulassung für viele Rennstrecken nicht geeignet ist.
Dem ein oder anderen wird diese Situation vielleicht bekannt vorkommen: Es ist ein schöner Sonntag und man möchte den Nachmittag damit krönen, seinen Boliden ein paar Runden über die Rennstrecke zu scheuchen. Vorausschauenderweise hat man sich beim letzten Bremsenservice schon für die “super-leistungsfähigen” XYZ Sportbremsbeläge mit Zulassung nach ECE R90 entschieden, damit man sie auch im Straßenverkehr fahren kann und nicht vor Ort am Rennplatz noch auf anderes Material wechseln muss. Bei der Wahl der Bremsbeläge hat man auch ganz oben ins Regal gegriffen - sowohl was den Preis, als auch die vermeintliche Sportlichkeit angeht. Das Material soll ja schließlich auch was aushalten!

Doch Moment - ECE R90 zugelassene Bremsbeläge und Motorsport? Da kann doch was nicht stimmen. Schließlich dürfen Bremsbeläge doch nur 15% “besser”, als ihre Serienpendants sein, um diese Prüfung zu bestehen. 15% schlechter zwar auch, aber das steht auf einem anderen Blatt. Was dabei “besser” und “schlechter” bedeutet und welche Eigenschaften hierbei zugrunde gelegt werden, können Sie der nebenstehenden Grafik aus unserem Bremspunkt Beitrag “Der richtige Bremsbelag ist kein Zufall” entnehmen. Generell bleibt festzuhalten, dass die Aussagekraft der ECE R90 Norm in vielen Bereichen, die sowohl den sportlich ambitionierten, als auch den Komfort-Kunden interessieren könnten, de facto nicht vorhanden ist.
ECE R90 zugelassene “Hochleistungsbeläge” sind, wie die meisten Bremsbeläge immer als Kompromiss aus Leistung & Komfort zu sehen - wirklich motorsporttaugliches Material hat ganz andere Schwerpunkte. Um im Motorsport bestehen zu können, müssen Bremsbeläge deutlich mehr können, als eine ECE R90 Zulassung ermöglichen würde und das in Temperaturbereichen, die Sie mit Ihrem Daily Driver nie erreichen werden - es sein denn, Sie fahren generell voll beladen und im Hängerbetrieb die Passstraßen herunter, ohne hierbei die Motorbremse zu benutzen ;)
Sind ECE R90 zugelassene Beläge nun per se nicht für die Rennstrecke geeignet?
Das kommt wahrhaftig auf die Rennstrecke, das Fahrzeug und letztendlich auf das Können des einzelnen Fahrers an. Während straßenzugelassene Bremsbeläge auf der Nürburgring Nordschleife und deren langen Geraden zwischen den Kurven immer wieder Temperatur abbauen können und durch diese Regenerationsphasen meist problemlos für ein paar Runden funktionieren, sieht es auf Rennstrecken wie dem “materialmordenden” Hockenheimring, wo Kurve auf Kurve folgt, schon anders aus. Hier kann die Bremse nur wenig bis gar keine Temperatur abbauen, gerät durch die hohen Temperaturen, für die sie nicht ausgelegt ist, wesentlich schneller ins Fading und verschleißt auch deutlich schneller.
Wie sagte schon ein schlauer Mensch? “Bremsen tun sie alle - die Frage ist nur, wie lange und wie oft hintereinander!” Nicht umsonst gibt es bei der Entwicklung von Bremsbelägen eine stetige, wenn auch vordergründig nicht allzu beeindruckende Evolution. Vor vielen hundert Jahren war schon klar, dass man ein sich drehendes Rad mittels Reibung anhalten kann. In der Anfangszeit kamen hierfür natürliche, weiche, aber stabile Werkstoffe wie Holz, Leder, Kork & Co. zum Einsatz, was durchaus funktionierte. Warum? Weil zum einen die Masse, die abgebremst werden und zum anderen die Geschwindigkeit, aus der das geschehen musste, deutlich geringer waren, als bei heutigen Fahrzeugen.
Um heutige Fahrzeuge dauerhaft und sicher abbremsen zu können und dabei auch noch den vom Kunden gewünschten Komfort gewährleisten zu können, ist mittlerweile mehr nötig, als Holz oder Leder. Moderne Reibbelag-Mischungen bestehen aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Komponenten, die dem Bremsbelag bestimmte Charakteristiken und dedizierte Einsatzzwecke bescheren. “besonders bremsstaubarm”, “schonend für Ihre Bremsscheiben”, “überragendes Pedalgefühl”, “sehr gute Kompressibilität” - alles Dinge von denen die Holz & Leder-Fraktion noch nicht mal wusste, dass man davon träumen kann. Heutzutage sind solche Features durch die modernen Materialien allerdings durchaus möglich und werden immer öfter auch verlangt.

Aber so komfortabel, bremsstaubarm und leise moderne Bremsbeläge für den Straßenverkehr (also mit ECE R90 Zulassung) auch sind - der Temperaturbereich und somit das Einsatzgebiet ist und bleibt die Straße! Natürlich werden auch solche Bremsbeläge Ihren getunten Rennboliden zum Stehen bringen (schließlich sind es ja immer noch Bremsbeläge) - die eben aufgeworfene Frage nach dem “wie lange und wie oft hintereinander” bleibt aber bestehen!
Im Umkehrschluss würden natürlich auch Motorsport-Bremsbeläge auf Ihrem Daily Driver im öffentlichen Straßenverkehr funktionieren, denn - Sie werden es ahnen: Auch hierbei handelt es sich um Bremsbeläge. Dass solche Beläge im kalten Zustand aber nur sehr mäßig funktionieren, dabei quietschen als gäbe es kein morgen, nicht gerade zimperlich mit Ihren schönen Bremsscheiben umgehen und Unmengen an Bremsstaub produzieren, steht eher nicht im Werbetext des Herstellers. Muss auch gar nicht - denn als Motorsportler weiß man sowas einfach und toleriert es im Austausch für überragende Bremsleistungen im vorgesehenen Temperaturbereich. Zudem sind derartige Motorsport-Beläge für den Einsatz im öffentlichen Straßenverkehr halt auch nicht zugelassen.
Um nochmal einen der vielleicht wichtigsten Leitsätze aus unseren vergangenen Beiträgen in den Fokus zu rücken:
Je sportlicher ein Bremsbelag abgestimmt ist, desto eher neigt er zum Quietschen!
Denn im Motorsport ist es egal, ob der Belag quietscht, Bremsstaub produziert oder nach Lakritze riecht. Er muss einwandfrei funktionieren - und das am besten so lange, wie das Rennen dauert!
Die oft gewünschte "Eierlegende-Wollmilchsau" ist und bleibt leider eine Legende. Motorsport-Bremsbeläge die über dutzende Runden Höchstleistungen bringen, dabei aber sanft zu den Bremsscheiben, sowie leise und bremsstaubarm sind, gibt es genauso wenig, wie StVZO-zugelassene Höchstleistungs-Beläge, die im kalten ebenso gut funktionieren, wie bei 800 Grad.
Keine Regel ohne Ausnahme
Obwohl man hier auch relativieren und der Regel eine Ausnahme gewähren muss. Denn bei ausreichend wirtschaftlichem Interesse ist es durchaus möglich, auch eigentlich für den Motorsport vorgesehene Bremsbeläge durch eine ECE R90 Prüfung zu bekommen. Selbiges wurde kürzlich für den Pagid RSL29 zum ausschließlichen Einsatz im Hyundai i30N Performance gemacht. Der vom Reibwert her eher moderate aber sehr ausdauernde Bremsbelag besitzt im Gegensatz zu vielen anderen Reibwertmonstern eine sehr flache Reibwertkurve und bewegt sich somit innerhalb der ECE R90 Spezifikationen. Dass er diesen Reibwert dann auch bis fast 700°C hält und ab 500°C nur minimal abfällt, ist für die ECE-Prüfung unerheblich, denn im Temperaturbereich, in dem OE-Beläge funktionieren müssen, bewegt er sich nahezu auf deren Niveau, bzw. knapp darüber.

Prinzipiell wäre es also durchaus möglich, für diverse moderat bremsende Motorsport-Bremsbeläge auch eine ECE R90 Homologation zu bekommen. Doch das Interesse der Belaghersteller dies zu tun ist eher gering. Zum einen aufgrund der für die Prüfung anfallenden und nicht gerade unerheblichen Kosten und zum anderen aufgrund der global gesehenen fehlenden Notwendigkeit. Deutschland ist neben einigen anderen EU-Ländern halt eines der wenigen Länder weltweit, die solche Prüfungen vorschreiben und bei Nichteinhaltung auch Sanktionen verhängen. Gemessen am Weltmarkt ist Deutschland (und die anderen EU-Länder) oft nur ein sehr kleiner Teil und eine "teure" ECE R90 Prüfung daher meist unverhältnismäßig. Denn eins muss man ja auch sehen - der Hersteller wird die Kosten, die für die ECE R90 Prüfung anfallen, definitiv auf den ohnehin schon hohen Preis der Motorsport-Beläge aufschlagen, um wirtschaftlich zu sein. Diese Mehrkosten müssten dann aber auch die Fahrer zahlen, denen die ECE R90 Homologation eigentlich komplett egal ist, da sie diese in ihrem Land oder für ihren Einsatzzweck nicht benötigen. Und nur um ein "paar" Fahrer aus einem reglementierten Land zufriedenzustellen, setzt kein Hersteller freiwillig sein Standing bei dem Großteil der übrigen Fahrer aufs Spiel.
Zum Schluss dieses Artikels noch ein Funfact: Selbst heutzutage könnten Sie Ihr Fahrzeug mit Bremsbelägen aus Holz zum Stehen bringen. Nicht oft hintereinander oder gar aus hohen Geschwindigkeiten und ganz sicher nicht StVZO-konform - aber Sie werden bremsen, darauf können Sie sich immer noch verlassen! Wer das nicht glaubt: Die U-Bahn in Montreal wird heute noch mit hölzernen Bremsbelägen (mariniert in Erdnussöl & Salzwasser) abgebremst und die Jungs von “Garage 54” bzw. “FixAlex” auf YouTube haben es ebenfalls bewiesen ;) Falls Sie Interesse daran haben: Hier sind die Links zu den Videos.
- Wooden brake-pads: will they work or not?
- Wooden brake shoes - Montréal métro
- Wooden Brakes...? Could they work? A Little Experiment with safety)
Und wie immer gilt: Sollten Sie sich bei der Auswahl der passenden Bremskomponenten für Ihr Fahrzeug, Ihren Einsatzzweck und Ihren Geldbeutel unsicher sein, zögern Sie nicht mit uns Kontakt aufzunehmen. Unsere Fachberater stehen Ihnen auf vielen Wegen gerne mit Rat & Tat zur Seite - per Telefon unter 02163/9499840, per E-Mail unter info@at-rs.de, per Kontaktformular oder auch persönlich in unserer Zentrale in Niederkrüchten. Wir freuen uns Ihnen helfen zu können!
